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Meine nackte Wahrheit
Diese Geschichte stammt aus dem Buch "Soul on the Run" von Robin Korth und beschäftigt sich mit einem in unserer Gesellschaft eher heiklen Thema: Dem Körper einer 59-Jährigen.
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Nackt stand ich vor meinem Kleiderschrank. Das Licht war an und machte mich fertig. Ich nahm einen tiefen Atemzug und positionierte den Spiegel so, dass ich mich komplett sehen konnte. Ich arbeitete bewusst daran mein geglaubtes Selbstbild zu verdrängen. Ich öffnete meine Augen und betrachtete vorsichtig meinen gesamten Körper. Mein Herz raste in Angesicht der Wahrheit. Ich war keine junge Frau mehr. Ich bin eine Frau mit einem erfüllten Leben. Mein Körper spricht Bände davon wie er meine Seele all diese Jahre durch das Leben trug.

Ich bin eine 59-jährige Frau mit einer hervorragenden Gesundheit und einer wirklich guten physischen Verfassung. Ich stehe mit 1,75 Metern auf 62 Kilogramm noch im Leben. Ich trage Hosengröße 36 und meine Brüste sind bei Weitem nicht Richtung Bauchnabel gerichtet. Tatsächlich kämpfe ich noch immer darum diese vollständig in einem B-Körbchen unterzubringen. Meine Oberschenkel sind nicht mehr so schön glatt und mein Po ist nicht mehr so straff wie früher. Meine Oberarme sind schon etwas schwabbelig und zeugen von den Zeiten als Sonnenanbeterin. Dann ist da diese weiche Schicht um meine Hüften, die nicht länger mehr so perfekt straff sitzt. Mein Bauch attestiert den Kaiserschnitt, der mir die Bikinifigur raubte, aber mir dafür einen wundervollen Sohn schenkte.

Warum dieser strenge Blick auf mich selbst? Es war an der Zeit dem Druck der Gesellschaft und meinen eigenen Ängsten zu widersprechen und meine Seele mit inniger Liebe zu begießen. Es war an der Zeit jeden nicht so perfekten Zentimeter meines Körpers, der als "zu faltig" von einem Mann bezeichnet wurde, zu akzeptieren. Dave, 55 Jahre alt, war angetan von meiner Lebensenergie und meinem Gemüt, aber er mochte meine nackte Wahrheit nicht.

Wir lernten uns auf einer Dating-Seite kennen. Dave war interessant, anständig und intelligent. Er hielt meine Hand einfühlsam und wir unternahmen gemeinsam lange Fahrradtouren. Er fuhr unzählige Kilometer um mich zu sehen. Er kochte oft für uns beide. Ich war verlockt und sehnte mich danach ihn näher kennenzulernen. Wir planten ein gemeinsames Wochenende. Ab diesem Zeitpunkt wurde es für mich verwirrend. Wir gingen zusammen ins Bett. Nackt. Wir tauschten Küsse aus und schliefen fest umarmt ein. Ich wollte mehr Intimität, doch seine Reaktionen verwirrten mich jedes Mal.

Am darauffolgenden Montagabend fragte ich den Mann, mit dem ich ein Bett für drei Nächte teilte am Telefon, warum wir keinen Sex hatten. "Dein Körper ist zu faltig", sagte er ohne jegliches Zögern und begründete: "Ich habe mich selbst über die vielen Jahren mit jungen Frauen verwöhnt. Dein Körper erregt mich einfach nicht. Ich liebe zwar dein Lachen, deine Persönlichkeit, aber ich komme einfach nicht mit deinem Körper klar."

Ich war fassungslos. Der Schmerz würde später kommen. Ich fragte vorsichtig ob er es schwierig fand meinen Körper anzusehen. Er bejahte meine Frage. Er sagte, dass er versuchte wegzusehen und als das Licht aus war, stellte er sich vor, dass mein Körper jünger wär und dass ich jünger sei. Ich atmete tief ein, als ich das Gesagte verarbeitete. Ich fühlte mich beschämt an die Tage meiner unbekümmerten Nacktheit vor seinen prüfenden Blicken erinnert.

Wir sprachen noch einige Zeit bis ich mich benommen fühlte. Er erzählte mir von speziellen Strümpfen und Kleidung, die mein Alter verstecken würden. Er beichtete mir ungeniert, dass er auf "schwarze Miniröcke" und Highheels stehe. Er meinte mein Haar sei nicht so lang und wellig wie er es bei einer Frau bevorzugt, aber das wäre für ihn okay gewesen. Ich fühlte mich wie eine Barbie-Puppe auf LSD als ich diesem Mann zuhörte. Er war sich komplett unbewusst über die Boshaftigkeit seiner Worte, die mich zu einem Objekt seiner Vorstellung weiblicher Perfektion machten.

Er begann zu erläutern was an mir fehlte, um mit ihm eine großartige Nacht zu verbringen. Ich lehnte entschieden ab. Ich würde mich nicht vor meinem eigenen Körper verstecken. Ich würde nicht irgendwelche Outfits tragen, um meinen Körper erträglicher erscheinen zu lassen. Ich würde mich nicht im Schutze der Dunkelheit umziehen oder mit geschlossener Kabine duschen. Ich würde mich selbst nicht für ihn oder sonst wem auf meinen Körper reduzieren. Ich finde meinen Körper schön.
Als ich Dave eine Abfuhr erteilte und ihm sagte, dass ich ihn nie wieder sehen oder etwas von ihm hören möchte beschwerte er sich, dass ich aus einer Mücke einen Elefanten machte. Ich wollte noch nicht einmal den Versuch unternehmen ihm klar zu machen welchen Schmerz er mir zugefügt hatte. Genau genommen fühlte ich Mitleid für diesen Mann als ich das Gespräch beendete, um mich anschließend im Schlafzimmer in heimischer Sicherheit zu entkleiden.

Als ich tapfer mit klarem Blick in den Spiegel schaute akzeptierte ich jeden Zentimeter meines Körpers. Das ist mein Körper. Er trägt meine Seele seit vielen Lebensjahren in mir. Jede Falte und Unvollkommenheit ist ein Zeichen für mein erfülltes Leben. Mit Tränen in den Augen umarme ich mich selbst und danke Gott für meinen Körper. Und ich bedanke mich auch bei Dave, der mich daran erinnert hat wie wertvoll er ist.
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